Es ist Montag, 18 Uhr. Dr. Ullrich Gebhardt hätte jetzt eigentlich Feierabend. Im Wartezimmer des Bautzener Chirurgen sitzen noch 19 Patienten. Der Sprechtag wird also auch heute wieder länger dauern – bis nach acht auf jeden Fall, vielleicht auch bis um zehn. Ullrich Gebhardt ist ein gefragter Mann. Ärzte aus China und den Emiraten wollen von der Koryphäe der Kniechirurgie lernen, Patienten aus ganz Deutschland von ihr behandelt werden. Bis zu 150 Menschen sitzen an manchem Tag in Gebhardts Sprechstunde, mehr als 2800 sind es in jedem Quartal. Er kann nicht mehr als arbeiten.
Vielen Fachärzten in der Region geht es ähnlich. Dabei ist der Landkreis laut bundesweitem Versorgungsschlüssel in allen Fachrichtungen ausreichend, theoretisch sogar überversorgt. Eine Augenarztstelle im Altkreis Bautzen ist die einzige noch freie Niederlassungsmöglichkeit. Aber der Versorgungsschlüssel, der sich aus dem Verhältnis von Einwohnern pro Arzt berechnet, ist blanke Theorie. Tatsächlich suchen weit mehr Patienten eine Facharztpraxis auf, als auf dem Papier vorausgeplant. In einer bundesweiten Umfrage der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gaben 83 Prozent der 18- bis 79-jährigen Befragten an, im letzten Jahr mindestens einmal beim Arzt gewesen zu sein, jeder dritte von ihnen auch beim Facharzt. Während die Zahl der Besuche beim Hausarzt leicht gesunken ist, steigt sie bei den Fachärzten. Und das bedeutet in vielen Fällen Warten – entweder wie bei Dr. Ullrich Gebhardt stundenlang im Wartezimmer, oder wie bei vielen anderen Spezialisten monatelang, um überhaupt erst einmal einen Termin zu bekommen. Wer sich jetzt beispielsweise zu einer Schmerztherapie in der orthopädischen Gemeinschaftspraxis von Dr. Dirk Boden in Großröhrsdorf anmeldet, der ist erst im Februar 2013 dran. Bei Dr. Martina Dewey aus Oppach, der einzigen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiaterin und -psychotherapeutin weit und breit, werden jetzt die nächsten freien Termine für März vergeben. Die Internistin Dr. Kathrin Winkler aus Bautzen hat für rheumatologische Untersuchungen gar erst im April die nächsten Kapazitäten frei, wie diese Woche eine SZ-Umfrage ergeben hat.
Prekär ist demnach vor allem auch die Situation bei den Augenärzten. Wer einen normalen Untersuchungstermin wünscht und nicht gerade akute Beschwerden hat, muss beispielsweise bei Brigitte Rentsch in Bautzen ein halbes Jahr warten. In Bischofswerda, wo eine Augenarztpraxis derzeit nur durch stundenweise Vertretung besetzt ist, werden überhaupt erst wieder ab Dezember neue Termine fürs nächste Jahr vergeben.
Sechs bis acht Wochen warten Patienten in manchen orthopädischen Praxen. Auf ein zusätzliches Problem macht eine Mitarbeiterin der orthopädischen Gemeinschaftspraxis in Radeberg aufmerksam. Manche Kollegen haben bereis so viele Stammpatienten, dass sie überhaupt keine neuen mehr aufnehmen können. In Radeberg werden wenigstens zwei Neuanmeldungen pro Arzt und Quartal berücksichtigt.
Und wenigstens eine gute Nachricht gibt es für Kassenpatienten. In den meisten Facharztpraxen erhalten Privatversicherte keine bevorzugte Behandlung. Auch nicht beim Gelenkchirurgen Ullrich Gebhardt, den das Nachrichtenmagazin Focus zu den besten deutschen Kniespezialisten zählt. Er bleibt bodenständig: „Der Schmerz macht auch keinen Unterschied“, heißt sein einfacher Grundsatz.
Der Fehler liegt im System, ist der renommierte Mediziner überzeugt. Viel zu viel Bürokratie und eine unsägliche Budgetierung würden den Ärzten das Leben schwermachen. „Die Leidtragenden sind die Patienten.“ Der Versorgungsschlüssel trage dem tatsächlichen Bedarf schon lange nicht mehr Rechnung. Die Patienten werden älter und kränker. Rückenschmerzen nehmen zu, Verschleißerkrankungen sind eine regelrechte Volkskrankheit geworden. „Hinzu kommt, dass Praxen budgetiert und kontrolliert werden von oben bis unten“, sagt Ullrich Gebhardt. Dabei kenne er keinen Arzt, der Rezepte aus Lust und Laune ausstellt. In der Budgetierung sieht er auch eine Ursache für die steigende Zahl der Facharztbesuche. Manches Rezept könnte genauso gut auch der Hausarzt unterschreiben. Doch Hausärzte müssen ebenfalls knausern mit ihren Verordnungen und überweisen die Patienten deswegen lieber samt Kosten an die Fachkollegen.
Die Hausärztin Hanna Kramer aus Großpostwitz macht aber auch die Medien und die Patienten selbst verantwortlich für die angespannte Situation in vielen Facharztpraxen. „Manche Patienten kommen schon von vornherein mit dem Anspruch: Ich brauche eine Überweisung zum Facharzt“, sagt die Allgemeinmedizinerin. Dabei könnten die Hausärzte durchaus manches Problem auch gleich selbst klären. Ihr Problem ist gegenwärtig ein ganz anderes: Sie ist jetzt 66 und würde ihre Landarztpraxis gern in jüngere Hände abgeben. Trotz intensiver Bemühungen aber hat sie noch keinen Nachfolger gefunden. Dabei sind schon jetzt 26 Hausarztstellen im Landkreis unbesetzt.
Quelle: Sächsische Zeitung, Ausgabe Bautzen, Donnerstag, 01.11.2012